Praeceptum noctis


Ich war noch sehr jung, als ich zum ersten Mal die Tür mit der Aufschrift: „Du musst der Beste sein.“ sah. Mit kindlicher Neugierde öffnete ich die Tür und stand vor einer kleinen, dunklen Kammer an dessen Ende sich eine Tür mit der Aufschrift „Erfolgreich“ befand.
Ich hatte eine unbewusste Angst, die mich hinderte hinein zu gehen. Ich hatte alles was ich wollte, ich war glücklich, konnte noch fröhlich, nicht leer, nicht hohl lachen. Und deshalb ließ ich ab, rannte weg von der Tür. Warum sollte ich dieser Leere meine Freude opfern? Doch irgendwann, ich weiß nicht wie, stand ich erneut vor dieser Tür. Als ich sie diesmal öffnete, war der Raum noch unheimlicher. Er war duster, ja stockduster, kein Stern, kein Licht, außer dem strahlend grellen Weißen, das durch die offene Tür mit der Aufschrift: „Erfolgreich“ fiel.
„Du musst es schaffen.“, riefen plötzlich menschliche Stimmen, fordernd, immer eindringlicher und die Tür schien so greifbar nah, so schritt ich mutig hinein in die Dunkelheit. Voller Hoffnung, voller Erwartung die nächste Tür zu erreichen. Die Tür schloss hinter mir zu meinem Erschrecken. Sie war aber einfach wieder zu öffnen. Erleichtert machte ich mich auf den Weg zur Tür „Erfolgreich“. Zunächst war ich überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. Aber Zweifel und Angst schlängelten langsam um mich. Mir wurde immer unheimlicher, Schatten vernebelten meinen Geist. Inzwischen hatte ich die Orientierung verloren, nur der Fixstern „Erfolgreich“ leuchtete mir noch. Schwere Last auf meinen Schultern drückte mich zu Boden, drückte meinen Hals zu. Aus einem Augenwinkel konnte ich einen Schlangenkopf aus Schatten mit rot glühenden Augen erkennen. Aber ich kämpfte mich weiter. Plötzlich stieß ich gegen ein unsichtbares Gitter, die Tür zum Erfolg war nur noch Zentimeter entfernt dahinter. Panik stieg in mir auf. Die menschlichen Stimmen spornten mich an weiter gegen das Gitter anzukämpfen, sie gaben mir sogar Süßigkeiten, deren Energie mich millimeterweise gleiten ließen, doch meine Kräfte schwanden und ich rutschte mit einem Ruck zurück. Ich war wieder am Anfang und wieder und wieder versuchte ich es angespornt durch die Süßigkeiten, doch ich kam einfach nicht voran. Ich sah seltsame, oberflächliche Kinder ohne Probleme durch die Gitterstäbe gleiten. Sie waren flach wie Papier, nein sogar flacher, bestanden nur aus einer Fläche umrahmt von Unwissenheit, verziert mit Arroganz. Ich wollte wie sie durch die Gitter, aber ich konnte nicht. Irgendwann, es war um Mitternacht, gab ich auf, wollte zurück, zurück in mein glückliches Leben. Als ich mich umdrehte, war der Raum geschrumpft. Die Tür zurück war zum Greifen nah. Meine Hand ergriff die Klinke, drückte, die Enttäuschung, die Verzweiflung: ich hatte keine Kraft mehr sie aufzudrücken. Panisch sah ich mich in meiner kleinen Zelle, die der dunkle Raum geworden war, um. Die Tür zum Erfolg rückte immer weiter in den Himmel, wohin ich aufschaute, wir aufschauten. Inzwischen stießen Kinder, wie ich, zu mir. Sie waren dunkel vor Trauer, hatten aber einen normalen, dreidimensionalen Körper mit dem sie an dem Gitter scheiterten. Im Laufe weniger Monate wurde aus zehn Kindern, Hunderte, Tausende.
In der Zelle zerdrückte man sich fast. Der Druck war unerträglich, diese Schmerzen…
Meine Mitgefangenen hielten es nicht mehr länger aus. Die einen verwandelten sich per Zigaretten in Rauch, die anderen verflüssigten sich per Alkohol in eine dunkel-gelbe Flüssigkeit, um durch den schmalen Bodenspalt der verbliebenen Tür zu entkommen. Bald war ich allein, kein physischer aber psychischer Schmerz peinigte mich jetzt. Zunächst wusste ich nicht mehr was schlimmer war, nach einigen Monaten vermisste ich den physischen Schmerz immer mehr. Meine dunkle, kleine Welt wies Bildstörungen auf, mit der Zeiten wurden es immer mehr. Ich sah Schattengestalten auf den dunklen Wänden der Zelle. Sie tanzten nach den Takt einer rotäugigen Schattenschlange. Die Luft schien dickflüssig zu sein und meine Lungen zu verstopfen. Und da entdeckte ich einen alten, weißhaarigen Mann in meiner Zelle. Ich fürchtete mich vor ihn, was unter anderem an seinen Teufelshörnern und seinen unförmigen Füßen lag, auch waren mir seine knochenbleichen Zähne und feuerroten Augen zuwider. Sie machten mir Angst. Ich schrie vor Qual mit dieser Kreatur alleine eingesperrt zu sein, eine unvorstellbare Folter, doch die menschlichen Stimmen lachten nur. Wollten sie mich verhöhnen? Sie waren überall und erdrückten mich mit ihrer Präsenz.
Mein schwaches Stimmchen wandte sich an den Himmel, wo nur Spott und Unverständnis mir antworteten.
Ich trat verzweifelt gegen die Tür, während der alte Mann verschlagen lächelte. Irgendwann gab ich auf, hockte mich resigniert in eine Ecke der Zelle und wartete. Die Zeit verging wie eine trübe Ölbrühe, in der ich um mein Leben schwimmen musste. Nur der alte Mann gab mir die Kraft auszuhalten und weiter zu schwimmen. Er wurde mir immer sympathischer im Laufe der Jahre, schließlich hatte ich den Mut ihn anzusprechen: „Wer bist du und wie komme ich hier raus?“
Er antwortete mir mit einer ziegenlachenden Stimme: „Ich bin der Teufel, der in den Menschen wohnt. Ich bin die schockierende Wahrheit von Lüge betrohnt. Die Wahrheit sprech‘ ich, doch Lüge bin ich. Ein Phantom, ein Schatten.“, die Gestalt drehte eine Pirouette, „Das Praeceptum noctis wird dir helfen, für den Preis deiner Seele. Unterschreib‘ hier mit Blut und die Macht der Nacht sei dein.“
Ich musste, vor Erschöpfung krächzend, lachen: „Geht es noch schlimmer als die Hölle in der ich bin, Teufel?“
Die Gestalt kratzte sich nachdenklich den Kopf, hüpfte koboldhaft herum, bevor sie antwortete:
„Nein. Die Hölle ist ein Paradies aus warmen Blut und dem glühend Erdblut, das auch bekannt als Lava ist. Lebenslüstern sind wir“, der Teufel schnaubte, „ja, das sind wir.“
Ich ritzte in meinen Arm, einen schönen geraden Schnitt, um einige Bluttropfen auf das Pergament, welches mir der Teufel hinhielt, zu tropfen.
Der Teufel grinste, beobachtete meine Wunde wie sie zu einer riesigen Narbe verdorrte, drehte sich wie ein Kreisel, stoppte, setzte dann zur Erklärung an:
„Die Lehre Praeceptum noctis besagt, man solle die Kraft aus der Finsternis holen, um ins Licht zu stoßen. Friss deine Niederlagen für den Sieg, statt zu resignieren. Nutze die Kräfte deiner dunkelsten Gedanken. Sei der Obsidianschmied, der Obsidian zu Kunstwerken schmiedet. Nutze die Nacht deiner Seele für eine neue Tür. Carpe noctem.“
Die Gestalt verblasste, verschwand. In meinen Herzen erwachte eine neue Macht, die eines dumpf dröhnenden Motors und ich saugte die Dunkelheit in mich hinein wie Luft.
Und dann versuchte ich mich als Obsidianschmied. Unerträglicher Lärm füllte plötzlich die Luft, es war als würden überall schlecht geölte Zahnräder knirschen. Und das Schreien der Flammen von Bunsenbrennern, schien mein Trommelfell zu zerfetzen. Langsam, unerträglich langsam erschien das bleiche Gerippe einer Tür aus mir bisher verborgenen Maschinen. Ein Gerippe mehr war es nicht, ein Flickwerk meiner Seele, ein zerfranzter Rahmen. Die eigentliche Tür fehlte, führte nirgendwo hin.
Ich hatte versagt. Ich schaute mir die Maschinen genau an. Ölig braun, kompliziert verstrickte Drähte und sanft brummende Motoren. Sie gaben mir Sicherheit. Niemals würden sie mich zum Unglück verführen, wie die Menschen es getan hatten. Nie mir wehtun.
Ich versuchte es erneut unter vollen Einsatz meines Herzens, es brannte wie die Hölle selbst. Doch der Lärm ging zurück, wurde ein geschmiertes, angenehmes Summen. Diesmal spuckte die Maschine eine schwarz-glänzend-glatte Obsidiantür aus, blutbesprenkelt mit meinem Blut, meinem Blut, das wie meine Tränen rann. Sie stand zwischen blutig roten Aufschriften: „Wahnsinn“ und „Genie“.
Mit einen schwarz-samtenen Klang sprang sie auf, um mir den Weg in die Zukunft zu öffnen. Auf den hell-weißen Gängen standen lachende menschliche Kreaturen in ungewohnt großen Massen. Als ich den ersten Schritt in diese helle, heile Welt setzte, merkte ich wie fremd mir Menschen geworden waren. Und wie fremd war erst das Licht, das auf meine pechschwarze Haut fiel. Der Schimmer meiner Haut in diesen Licht war der fleischgewordener Albtraum für meine Mitmenschen. Dabei war es doch nur meine ehrliche, von Narben gezeichnete Haut. Ich musste sie verstecken für einen Kontakt zu meiner Art, nach der sich meine Seele sehnte. Ich entschied mich für eine Maske aus diamant-glitzernden Spinnfäden, welche ich mir aus meinem Gehirn, meinem Kopf zog. Es wurde eine sehr gute Maske. Jeder der mich sah wurde geblendet, sodass er meine Dunkelheit nicht erkannte, vorausgesetzt die Sonne schien. Außerdem beherrschte die Maske Lug und Trug, so dass ich selbst in meiner düstersten Stunde ein lächelndes „Hallo“ aufsetzen konnte. Meine Haut sehnte sich dagegen nach der warmen Wiege der Nacht, in der sie mit ihrer Dunkelheit unter ihresgleichen war.

Ende

Ich danke B. S. für die beste Fehlerkorrektur, die ich je bekommen habe

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